Begonnen hatte es damit, dass Michela Ghisetti in einem Wiener Antiquariat ein Buch über die bekannteste deutsche Prostituierte Domenica Niehoff entdeckte. Die Faszination dieser Frau geht von ihrer bestechenden Körperlichkeit, ihren großen Brüsten, den weichen fleischlichen Kurven, ihrer selbstbewussten Haltung und dem fragend, leicht zur Seite geneigten Kopf aus. Ihr Blick ist direkt und doch verschleiert. Die Fenster zur Seele sind durch die tiefen hängenden Augenlieder nur halb geöffnet. Gerade diese Ambiguität zwischen frontaler Offenheit ihrer Körperhaltung, ihrer Offenherzigkeit bei gleichzeitigem Rückzug in ihr Innerstes macht das Faszinosum dieser Frau aus. Somit repräsentiert und verkörpert sie im wahrsten Sinne des Wortes ein archetypisches Konzept von Frausein, das seit der sogenannten Venus von Willendorf Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen anzieht.
Das Markenzeichen Domenicas wurde ein schwarzes Korsett, Symbol der Unterwerfung gesellschaftlicher und kultureller Einschnürung und Domestizierung des weiblichen Körpers, gleichzeitig aber auch Fetisch des Begehrens. Mit der beginnenden Frauenbewegung einher ging die Entschnürung des Körpers, übrig blieb das bewusste Anlegen des Fetischs als Symbol für eine selbst gewählte Rolle. Dieses symbolträchtige Kleidungsstück war nun Ausgangspunkt in den Überlegungen Michela Ghisettis. Zugrunde liegt diesen Gedanken die Tatsache, dass Kleidung ein bedeutsames identitätsstiftendes Medium ist. Durch die Aneignung von bestimmten paradigmatischen Kleidungsstücken wird auch ein Stück Identität mitgeliefert. Wie allgemein bekannt ist, ist Verkleidung mehr als ein Spiel, dadurch kann man sich in bestimmten Rollen einüben, kann eine Expedition in sein vielschichtiges Wesen unternehmen, kann Grenzen ausloten und auch überschreiten. Nach Auffassung des amerikanischen Sozialpsychologen George Herbert Mead werden Erinnerungen und Erfahrungen auf einer „Schnur der Identität“ organisiert, die eine zeitliche Einordnung in den Lebenslauf des Individuums ermöglicht. Menschen stellen Identität her, indem sie sich mit etwas identifizieren. Aus dem spielerischen Rollenverhalten, dem Wechsel verschiedener Sichtweisen entsteht mit der Zeit ein Selbstkonzept, ein Selbstwertgefühl und eine innere Kontrollinstanz, die alles im Gleichgewicht hält.
Cross-Dressing ist ein probantes Mittel, um Geschlechtergrenzen und Geschlechterrollen aufzuweichen, sie spielerisch zu überwinden. Es wird betont, dass es beim Cross-Dressing nicht nur um einen oberflächlichen Tausch von Kleidern geht, sondern vielmehr um eine entsprechende Ausrichtung der ganzen Persönlichkeit, um öffentliches und privates Auftreten, um Rollenverhalten und gesellschaftliche Anerkennung in der selbst gewählten Rolle. Seit Judith Butler wissen wir, dass es neben dem biologischen Geschlechtern multiple, sozial eingeübte Geschlechterformen gibt. Butlers zentrale These heißt „Doing Gender“, was soviel bedeutet, wie die Erkenntnis, dass wir nicht einfach ein Geschlecht haben, sondern dass wir unser Geschlecht in Tausenden von kleinen Einübungen tagtäglich immer wieder herstellen, eben einspielen. Die Gender-Theorien gehen von einem sozial erlernten und damit zum großen Teil erworbenen geschlechtlichen Rollenverhalten aus.
Was bedeutet es nun, wenn eine Künstlerin wie Michela Ghisetti andere KünstlerInnen in dieses Spiel involviert, mit dem Konzept Domenica konfrontiert? Was Judith Butlers Ansatz so radikal macht ist, dass sie die Kategorie „sex“ so sehr von „gender“ trennt, dass dieses biologische Modell überwunden zu sein scheint. Wenn dem so ist, „kann es auch vier, sechs oder sechzig Geschlechter“ geben. Indem sie nun andere Frauen und Männer – und es sind vor allem KünstlerInnen – in das Korsett von Domenica steckt, dass sie selber nach den Maßen von Domenica angefertigt hat, führt sie explorativ vor, wie viel vom Konzept Domenica, von diesem archetypischen Frauenbild in Anderen stecken kann.
Dieses Spiel kann nun, auf die Erkenntnisse von Butler aufbauend, über die biologischen Geschlechtergrenzen hinweg weiter gesponnen werden, was Michela Ghisetti konsequenterweise auch macht. Auf dieser künstlerisch- forschenden Ebene wird deutlich, wie einengend das obsolete Modell von nur zwei Geschlechtern ist, das mehr mit einer Ideologie der Heterosexualität zu tun hat, mit den angeblich „natürlichen“ Grundlagen des Lebens. Weiters treffen für Michela Ghisetti hier auch zwei Parallelwelten aufeinander, jene der Prostitution und des Künstlerseins. Das Korsett ist das Vehikel für diese Versuchsreihe, wobei die Idee dahinter die ist, dass ein Korsett einengen, aber auch zu groß sein kann, „wie eine vorgegebene Rolle in der Gesellschaft“, womit Michela Ghisetti ein körperliches mit einem gesellschaftspolitischen Modell verknüpft.
Sowohl „Freiheit“ als auch „Zwang“ sind vorhanden, denn jede KünstlerIn durfte ja nur in dieses eine Korsett in Größe 42 schlüpfen, was natürlich nicht allen gleich passte. Der Maßstab des Korsetts symbolisiert hier auch gleichzeitig den Maßstab der Rolle, eben jener der Prostituierten, die Domenica, bzw. die Künstlerin vorgegeben hat und welche Domenica voll und ganz ausfüllte. Die Relation der einzelnen Körper zum Korsett ist also zweierlei Natur: zum einen ist es der körperliche Aspekt, zum anderen auch die Relation zur Rolle, zum Konzept Domenica. Die Freiheit, welche die KünstlerInnen hatten, war jene, selber zu entscheiden, wie sie mit diesem Korsett umgehen wollten: Zieh ich es an? Zieh ich es aus? Wie posiere ich damit? Distanziere ich mich von dieser vorgegebenen Rolle, indem ich meine eigene Rolle spiele? Die Aneignung des Konzepts Domenica sieht damit sehr unterschiedlich aus, in einem Fall reicht das Einfangen eines subtilen Blicks aus, dem verschleiernden, verbergenden Blick Domenicas nahekommend, in einem anderen Fall ist es der Blick durch das Objektiv des Fotoapparates, der dadurch auf den Objektstatus der Prostituierten/der Frau/des Mannes/der KünstlerIn verweist. Michela Ghisetti ist diejenige, die sich am stärksten mit der vorgegebenen Rolle identifizieren kann, ihre Pose gleicht derjenigen Domenicas bis ins Detail, selbst der angelegte Schmuck ist ident und ihr Kopf neigt sich ebenfalls denkend und fragend gleichzeitig leicht zur Seite. Ident ist auch die Szene vor dem Spiegel, der Moment in dem sich die Rolle selbst inszeniert. Der Blick in den Spiegel ist ein Blick auf diese Rolle, die Sichtbarmachung auf das Bewusstsein der Möglichkeiten.
Elisabeth Priedl
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